Der Calcio liegt am Boden

December 2024 · 4 minute read

Sai­son­ab­bruch in der Serie A? Ver­ban­nung der Hoo­li­gans aus den Kurven? Eine Lehre für den ita­lie­ni­schen Fuß­ball? Nichts da. Auf den Tod von Chef­inspektor Filippo Raciti reagierte die erste Liga Ita­liens am ver­gan­genen Sonntag mit den übli­chen Gesten: Trau­er­flor am Trikot und eine Schwei­ge­mi­nute vor den Spielen. Eine Minute für den Poli­zisten, der vor einer Woche bei Aus­schrei­tungen am Rande des sizi­lia­ni­schen Derbys zwi­schen Catania und Palermo ums Leben kam. Getroffen von einem Wasch­be­cken, das aus der Wand des Sta­dions gerissen und von der Tri­büne geworfen wurde. Geworfen mut­maß­lich von einem 17-Jäh­rigen, der in Unter­su­chungs­haft sitzt.


Popu­list Silvio Ber­lus­coni

 
Der Tod scheint für viele Ver­eine der ita­lie­ni­schen Ligen nicht mehr als ein Unfall zu sein. Tra­gisch zwar, aber eben nicht zu ver­hin­dern. Sie haben kaum Ver­ständnis dafür, dass am Sonntag in der Serie A vier und in der Serie B sechs Spiele unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit statt­finden mussten. Nie­manden inter­es­siert, dass diese zehn Sta­dien nicht den seit zwei Jahren gel­tenden Sicher­heits­an­for­de­rungen genügen. Der größte Gegner dieser Rege­lungen ist aus­ge­rechnet der­je­nige, dessen Regie­rung diese Bestim­mungen erlassen hat, aber nie umsetzte: Silvio Ber­lus­coni. Es ist Frei­heits­be­rau­bung, den eigenen Fans zu ver­bieten, ihre Mann­schaft zu sehen“, sagte der Patron des AC Milan. Was in Catania geschehen ist, ist schmerz­haft – aber es pas­sierte vor dem Sta­dion. Ich hätte als Regie­rungs­chef nie­mals Publi­kums­ver­bote ange­ordnet.“ Kurze Zeit später setzte der Oppo­si­ti­ons­führer doch noch alle Hebel in Bewe­gung, damit zum Heim­spiel seines Ver­eins zumin­dest die 37 000 Dau­er­kar­ten­be­sitzer ins Sta­dion durften. Inner­halb von 48 Stunden hatten mehr als 100 Arbeiter das San Siro mit Dreh­türen aus­ge­stattet. Die sind eigent­lich bereits seit zwei Jahren Pflicht. 

Dass diese Sicher­heits­be­stim­mungen nun teil­weise umge­setzt werden, ist mehr als über­fällig. Denn die Zahlen der ita­lie­ni­schen Polizei sind ein­deutig. Seit Beginn der Saison wurden 228 Poli­zisten ver­letzt. In der ver­gan­genen Spiel­zeit waren es 158. Nach den Berech­nungen von Senator Ettore Piro­vano sind an einem Spieltag 70 000 Poli­zisten im Ein­satz. Das koste den Staat etwa fünf Mil­lionen Euro pro Woche.

Der Calcio, die Klammer der Gesell­schaft

Der Calcio in Ita­lien ist mehr als ein Sport­spek­takel – er ist die Klammer der Gesell­schaft. Ver­letzte Cara­bi­nieri und hor­rende Staats­kosten sind für die Klub-Bosse noch lange kein Grund, ihr Mil­lio­nen­spiel zu ändern. Und wenn doch jemand dras­ti­sche Ein­schnitte for­derte, klangen sie so eigen­willig wie der Vor­schlag des Trai­ners von Inter Mai­land, Roberto Man­cini: Statt die Zuschauer aus­zu­sperren, sollte man die Saison absagen und den der­zei­tigen Spit­zen­reiter zum Meister erklären. Ohne Zuschauer hat es keinen Sinn zu spielen.“ Tabel­len­führer ist übri­gens – genau – Inter Mai­land.
Luca Pan­calli, der Chef des ita­lie­ni­schen Fuß­ball­ver­bandes, schließt einen Abbruch der Saison jedoch aus: Wir sind an einem Wen­de­punkt ange­langt. Trotz der Pfiffe einiger Ultras wäh­rend der Schwei­ge­mi­nute ist der Sonntag gut ver­laufen.“ Nach einem Wochen­ende ohne Aus­schrei­tungen scheint die Welt wieder in Ord­nung zu sein. Nicht einmal eine Woche wollte der Ver­band auf den Spiel­be­trieb ver­zichten. Der Wille, etwas grund­le­gend zu ver­än­dern, ist nicht zu erkennen. Zu schnell wurde dem Drängen der Ver­eins­prä­si­denten und deren wirt­schaft­li­chen Inter­essen nach­ge­geben. Auch das neue Anti-Gewalt-Gesetz, das die Regie­rung ver­ab­schiedet hat, ist zual­ler­erst geprägt von Aktio­nismus: Die Anhänger der Aus­wärts­teams sollen keine großen Kar­ten­kon­tin­gente mehr bekommen können, Sta­di­on­ver­bote sollen schneller aus­ge­spro­chen werden, und nach gewalt­tä­tigen Über­griffen auf Poli­zisten sollen län­gere Haft­strafen mög­lich sein.

Doch die Pro­bleme sind weit größer, als viele Ver­ant­wort­liche zugeben möchten. Der Calcio liegt am Boden. Wie sonst sind die Worte des Liga­prä­si­denten Antonio Mat­ar­rese zu deuten: Die Toten gehören zum System. Es tut uns leid, was geschehen ist, aber das Spek­takel muss wei­ter­gehen“, sagte er bereits vor einer Woche und klang dabei wie ein Impe­rator im alten Rom. Schamlos fügte er hinzu: Der Auto­kon­zern Fiat hat seine Pro­duk­tion ja auch nicht unter­bro­chen, als er in der Krise steckte.“ Der Tod eines Poli­zisten ist in dem rechts­freien Raum Fuß­ball offenbar eine läs­tige Rand­er­schei­nung. Achtzig Pro­zent der Fan­kurven seien von rechts­extremen Gruppen unter­wan­dert, schätzt das Innen­mi­nis­te­rium. In den Sta­dien der drei sizi­lia­ni­schen Erst­li­gisten suche die Mafia sogar ihren Nach­wuchs. Über­griffe auf Fans und Poli­zisten ereignen sich an fast jedem Spieltag. Nur eine Woche vor den Kra­wallen in Catania war in Kala­brien ein Funk­tionär getötet worden.

Rudi Völler: Man bekommt dort alles hin­ein­ge­schmug­gelt.“

Für Rudi Völler, der von 1987–92 beim AS Rom spielte, sind die maroden Sta­dien das Kern­pro­blem: Bis auf wenige Aus­nahmen stammen die alle aus den 70-iger Jahren. Man bekommt dort alles hin­ein­ge­schmug­gelt. Man­ches deut­sche Regio­nal­liga-Sta­dion ist in bes­serem Zustand.“

Eine Folge der stei­genden Gewalt­aus­brüche sind die stetig sin­kenden Zuschau­er­zahlen. Nur noch 19 000 Men­schen kommen im Durch­schnitt zu den Spielen der ersten Liga – im Land des Welt­meis­ters. Vom eins­tigen Lire-Para­dies und der stärksten Liga der Welt ist nicht mehr viel übrig. Heute regiert die Angst auf den Rängen, und die Fans ver­folgen den Fuß­ball meist nur vor ihrem Fern­seher. Die Ver­ant­wort­li­chen müssen end­lich den Mut auf­bringen, zu han­deln. Schwei­ge­mi­nuten werden die Tifosi nicht zurück­holen. 

ncG1vNJzZmhpYZu%2FpsHNnZxnnJVkrrPAyKScpWeUmr9ur8ClmqKnXaG2prPTZpimZZKksaa6jmxsbnFgZw%3D%3D