Saisonabbruch in der Serie A? Verbannung der Hooligans aus den Kurven? Eine Lehre für den italienischen Fußball? Nichts da. Auf den Tod von Chefinspektor Filippo Raciti reagierte die erste Liga Italiens am vergangenen Sonntag mit den üblichen Gesten: Trauerflor am Trikot und eine Schweigeminute vor den Spielen. Eine Minute für den Polizisten, der vor einer Woche bei Ausschreitungen am Rande des sizilianischen Derbys zwischen Catania und Palermo ums Leben kam. Getroffen von einem Waschbecken, das aus der Wand des Stadions gerissen und von der Tribüne geworfen wurde. Geworfen mutmaßlich von einem 17-Jährigen, der in Untersuchungshaft sitzt.
Populist Silvio Berlusconi
Der Tod scheint für viele Vereine der italienischen Ligen nicht mehr als ein Unfall zu sein. Tragisch zwar, aber eben nicht zu verhindern. Sie haben kaum Verständnis dafür, dass am Sonntag in der Serie A vier und in der Serie B sechs Spiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden mussten. Niemanden interessiert, dass diese zehn Stadien nicht den seit zwei Jahren geltenden Sicherheitsanforderungen genügen. Der größte Gegner dieser Regelungen ist ausgerechnet derjenige, dessen Regierung diese Bestimmungen erlassen hat, aber nie umsetzte: Silvio Berlusconi. „Es ist Freiheitsberaubung, den eigenen Fans zu verbieten, ihre Mannschaft zu sehen“, sagte der Patron des AC Milan. „Was in Catania geschehen ist, ist schmerzhaft – aber es passierte vor dem Stadion. Ich hätte als Regierungschef niemals Publikumsverbote angeordnet.“ Kurze Zeit später setzte der Oppositionsführer doch noch alle Hebel in Bewegung, damit zum Heimspiel seines Vereins zumindest die 37 000 Dauerkartenbesitzer ins Stadion durften. Innerhalb von 48 Stunden hatten mehr als 100 Arbeiter das San Siro mit Drehtüren ausgestattet. Die sind eigentlich bereits seit zwei Jahren Pflicht.
Dass diese Sicherheitsbestimmungen nun teilweise umgesetzt werden, ist mehr als überfällig. Denn die Zahlen der italienischen Polizei sind eindeutig. Seit Beginn der Saison wurden 228 Polizisten verletzt. In der vergangenen Spielzeit waren es 158. Nach den Berechnungen von Senator Ettore Pirovano sind an einem Spieltag 70 000 Polizisten im Einsatz. Das koste den Staat etwa fünf Millionen Euro pro Woche.
Der Calcio, die Klammer der Gesellschaft
Der Calcio in Italien ist mehr als ein Sportspektakel – er ist die Klammer der Gesellschaft. Verletzte Carabinieri und horrende Staatskosten sind für die Klub-Bosse noch lange kein Grund, ihr Millionenspiel zu ändern. Und wenn doch jemand drastische Einschnitte forderte, klangen sie so eigenwillig wie der Vorschlag des Trainers von Inter Mailand, Roberto Mancini: „Statt die Zuschauer auszusperren, sollte man die Saison absagen und den derzeitigen Spitzenreiter zum Meister erklären. Ohne Zuschauer hat es keinen Sinn zu spielen.“ Tabellenführer ist übrigens – genau – Inter Mailand.
Luca Pancalli, der Chef des italienischen Fußballverbandes, schließt einen Abbruch der Saison jedoch aus: „Wir sind an einem Wendepunkt angelangt. Trotz der Pfiffe einiger Ultras während der Schweigeminute ist der Sonntag gut verlaufen.“ Nach einem Wochenende ohne Ausschreitungen scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein. Nicht einmal eine Woche wollte der Verband auf den Spielbetrieb verzichten. Der Wille, etwas grundlegend zu verändern, ist nicht zu erkennen. Zu schnell wurde dem Drängen der Vereinspräsidenten und deren wirtschaftlichen Interessen nachgegeben. Auch das neue Anti-Gewalt-Gesetz, das die Regierung verabschiedet hat, ist zuallererst geprägt von Aktionismus: Die Anhänger der Auswärtsteams sollen keine großen Kartenkontingente mehr bekommen können, Stadionverbote sollen schneller ausgesprochen werden, und nach gewalttätigen Übergriffen auf Polizisten sollen längere Haftstrafen möglich sein.
Doch die Probleme sind weit größer, als viele Verantwortliche zugeben möchten. Der Calcio liegt am Boden. Wie sonst sind die Worte des Ligapräsidenten Antonio Matarrese zu deuten: „Die Toten gehören zum System. Es tut uns leid, was geschehen ist, aber das Spektakel muss weitergehen“, sagte er bereits vor einer Woche und klang dabei wie ein Imperator im alten Rom. Schamlos fügte er hinzu: „Der Autokonzern Fiat hat seine Produktion ja auch nicht unterbrochen, als er in der Krise steckte.“ Der Tod eines Polizisten ist in dem rechtsfreien Raum Fußball offenbar eine lästige Randerscheinung. Achtzig Prozent der Fankurven seien von rechtsextremen Gruppen unterwandert, schätzt das Innenministerium. In den Stadien der drei sizilianischen Erstligisten suche die Mafia sogar ihren Nachwuchs. Übergriffe auf Fans und Polizisten ereignen sich an fast jedem Spieltag. Nur eine Woche vor den Krawallen in Catania war in Kalabrien ein Funktionär getötet worden.
Rudi Völler: „Man bekommt dort alles hineingeschmuggelt.“
Für Rudi Völler, der von 1987–92 beim AS Rom spielte, sind die maroden Stadien das Kernproblem: „Bis auf wenige Ausnahmen stammen die alle aus den 70-iger Jahren. Man bekommt dort alles hineingeschmuggelt. Manches deutsche Regionalliga-Stadion ist in besserem Zustand.“
Eine Folge der steigenden Gewaltausbrüche sind die stetig sinkenden Zuschauerzahlen. Nur noch 19 000 Menschen kommen im Durchschnitt zu den Spielen der ersten Liga – im Land des Weltmeisters. Vom einstigen Lire-Paradies und der stärksten Liga der Welt ist nicht mehr viel übrig. Heute regiert die Angst auf den Rängen, und die Fans verfolgen den Fußball meist nur vor ihrem Fernseher. Die Verantwortlichen müssen endlich den Mut aufbringen, zu handeln. Schweigeminuten werden die Tifosi nicht zurückholen.
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